20.10.2011 – Von Tsedang nach Gyantse

Langsam haben wir uns an die harten Betten gewöhnt. Komischerweise sind keine blauen Flecken auf den Beckenknochen zu sehen, obwohl es sich so anfühlt. Auch an die Höhe haben wir uns gewöhnt. Beim Aufstehen am Morgen hat der eine oder andere zwar ein leichtes Dröhnen im Kopf, doch sobald der Kreislauf erst einmal in Schwung gekommen ist, verschwindet auch dieser leichte Schmerz.

Unser heutiges Ziel ist die Stadt Gyantse. Um Gyantse zu erreichen, gibt es laut Yuke drei Möglichkeiten. Zum einen den direkten, kurzen Weg, dann die Nordstraße und die Südstraße. Wir wählen die Südstraße, welche am interessantesten ist und auch am längsten. Rund 300 Kilometer Fahrt liegen vor uns, als wir gegen halb neun aufbrechen, wie immer gut gesättigt vom Frühstück.

Die drei Pässe, die vor uns liegen, sind der Kampala Pass mit 4800 Meter Höhe, der Kharola Pass mit 5039 Meter Höhe und der Simila Pass, der auf 4700 Metern liegt.

Während der Bus langsam Tsedang verlässt, greift Herr Tang zum Mikrofon, welches heute ein wenig zickíg ist. Es gibt Religionen, in denen jedes Teil eine Seele hat, so auch ein Auto, ein Haus oder auch ein Mikrofon. Dieses Mikrofon in diesem Bus scheint heute äußerst übel gelaunt zu sein, denn immer wieder versagt es seinen Dienst. Doch Herr Tang lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und beginnt zu erzählen.

Wir erfahren von ihm heute wieder sehr viele Details über das tibetische Familienleben und besonders die unterschiedlichen Eheformen. Zunächst erzählt er, dass es auf dem Land üblich ist, dass in einer Familie mit mehreren Söhnen nur der älteste Sohn heiratet und der jüngste Sohn ein Mönch wird. Auf diese Weise ist zumindest für den jüngsten Sohn gesorgt, der im Kloster mit Essen und Unterkunft versorgt wird. Nur der älteste Sohn ist auf dem Land erbberechtigt. Die Frauen dürfen in Tibet nur eine bestimmte Anzahl Kinder kriegen, wobei das nur für die Frauen in der Stadt gilt, auf dem Land gilt dies nicht. Das Verhältnis von Männern zu Frauen in Tibet beträgt 46 zu 54 Prozent.

Herr Tang erzählt uns auch noch mehr Details. Gibt es zum Beispiel in einer Familie keinen Sohn, so werden alle Töchter einer Familie mit einem einzigen Mann verheiratet. Obwohl aber die Monogamie in Tibet am verbreitetsten ist, haben Frauen, die mit mehreren Männern verheiratet sind und mit diesen fertig werden, ein besonders hohes Ansehen.

Während wir wieder durch eine wunderschöne Landschaft fahren, erzählt uns Herr Tang das 5. Geheimnis. Das 5.Geheimnis handelt davon, wie der 14. Dalai Lama gefunden wurde. Das ist eine Sache, die mich auch immer schon fasziniert hat und über die ich komischerweise schon einige Male nachgedacht habe. Herr Tang berichtet uns, dass es nach dem Tod des 13. Dalai Lama verschiedene Zeichen gab, die auf eben dieses Kind als neuen Dalai Lama deuteten. Ein erstes Zeichen war eine bestimmte Wolkenformation. Ein weiteres Zeichen war, dass sich der Kopf des einbalsamierten Leichnams des 13. Dalai Lama in einer bestimmten Nacht nach Osten gedreht hat. Dies wurde so gedeutet, dass die Reinkarnation des 13. Dalai Lama im Osten zu suchen sei. Ein weiteres Zeichen war, dass an der Ostseite eines Hauses in einem Kloster ein besonderer Pilz wuchs. Dies war wieder ein Zeichen, dass der Knabe im Osten gesucht werden musste. Man hat außerdem das Orakel befragt, welches eine Vision von dem Aussehen des Geburtshauses des 14. Dalai Lama hatte. Das Orakel sagte auch voraus, dass der 14. Dalai Lama 300 km östlich von Lhasa gesucht werden sollte.

Es wurden viele Suchtrupps von Mönchen ausgeschickt, die nach dem richtigen Kind suchen sollten. Auch der Abt des Sera Klosters leitete einen Suchtrupp. 1938 machte sich der Abt des Sera Klosters auf und fand zwei Familien mit Kindern, auf die die Beschreibung des Geburtshauses mit dem besonderen Dach passte. Der Abt und ein Mönch tauschte die Kleidung und versuchten über eine List, den richtigen neuen Dalai Lama zu finden. Es stellte sich heraus, dass der heutige 14. Dalai Lama die List des Abtes bemerkte und den richtigen Mann als Abt identifizierte, außerdem konnte er viele Gegenstände des 13. Dalai Lama ohne Probleme als dessen Besitz erkennen. Als bekannt wurde, dass der 14. Dalai Lama gefunden worden war, wollte China das Kind nicht herausgeben. China erpresste Tibet und verlangte ein Lösegeld für die Herausgabe des Kindes. Als Tibet bereit war zu zahlen, erhöhte China das Lösegeld. Der ganze Prozess dauerte 2 Jahre. Erst 1940 durfte der Knabe nach Lhasa reisen und wurde dort zum 14. Dalai Lama gekrönt. Leider war der Vater des Knaben größenwahnsinnig und versuchte aus der neuen Position seines Jungen Kapital zu schlagen, was zu einigen politischen Unruhen führte.

Gegen 10 Uhr 30 unterbricht Herr Tang zwangsweise seine Ausführungen über den Dalai Lama, denn wir halten in einem kleinen Ort an einem Haus, das wie eine Hinterhofwerkstatt aussieht. Yuke erklärt uns, dass die Bremsen des Bus mit Kühlwasser aufgefüllt werden müssen, bevor wir in die Berge hoch fahren.

Kaum sind die Bremsen wieder fahrtüchtig, beginnt auch schon der langsame Anstieg in die Berge. Langsam schiebt sich der Bus die Serpentinen hinauf. Wir kleben an den Fenstern und genießen den Anblick. Langsam geht es immer höher hinauf und wir steigen inmitten der rötlichen Felsen auf engen und kurvigen Straßen auf dem Dach der Welt immer noch ein wenig höher. Es ist ein Wahnsinn, dass wir auf diesen Straßen, nur wenige Meter vom Abgrund entfernt, noch von Pkws und auch von Lkws und Bussen überholt werden, nicht nur auf gerader Strecke, sondern auch oder gerade in unübersichtlichen Kurven. Zwar hupt unser Fahrer vor jeder Kurve, doch manchmal ist diese Straße sehr schlecht einzusehen.

Wir haben Glück, dass das Wetter auch mitspielt und wir soviel sehen können. Der Anstieg auf den Kampala Pass ist wirklich atemberaubend. Je höher wir steigen, desto faszinierender wird die Fahrt. Wir blicken zurück ins Tal und sehen, wie weit wir schon gekommen sind, dann geht der Blick aber auch wieder hoch und wir erkennen, dass es bis zum Pass noch ein ganzes Stück zu fahren ist. Aber schließlich haben wir es geschafft. Wir befinden uns auf dem Kampala Pass in etwa 4800 Metern Höhe, die genau Angabe schwankt je nach Reiseführer.

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Der Anblick auf den Yandrok See, der sich zu unseren Füßen in einem satten türkisblau darbietet, ist einfach unglaublich. Unser Atem geht schwer, wir dürfen uns nur langsam bewegen. Mit Sonnenbrille und Mütze bewaffnet verlassen wir den Bus und wandern auf der Aussichtsfläche entlang, um den Anblick zu genießen. Sofort eilen Einheimische heran, ein Yak und ein Mastif im Schlepptau. Sie bieten uns an, gegen eine Gebühr von 10 bzw. 20 Yuan ein Foto mit den Tieren zu machen. Doch wir wollen erstmal die Natur und den unvergesslichen Anblick genießen. Das fällt etwas schwer, denn natürlich ist dieser Aussichtspunkt bei allen Touristen beliebt und auch die Einheimischen wissen das. Sie stehen mit geschmückten Yaks und Mastifs bereit, um vor der malerischen Kulisse des Yandrok Sees und der schneebedeckten Berge Fotos machen zu lassen. Natürlich nutzen wir die uns zugesagte Zeit über Gebühr aus. Jeder versucht, die wundervolle Stimmung des türkisfarbenen Sees vor den schneebedeckten Bergen auf seine Art einzufangen. Es werden Einzelbilder geschossen und Bilder von Paaren, aber natürlich auch ein paar Gruppenfotos vor dieser schönen Kulisse.

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Danach können Sibylle und ich doch nicht umhin, uns zusammen mit einem schön geschmückten Yak fotografieren zu lassen. Sibylle steigt auf das Yak und bekommt sogar eine schöne Fellmütze aufgesetzt, ich bleibe daneben stehen und wir lassen Michi ein paar Fotos schießen. Manchmal muss man solche Touristenaktionen einfach mitmachen.

Herr Tang ruft schon wieder. Wir sind viel zu spät dran.
Nachdem wir uns hier losgesagt haben, geht es wieder weiter. Es liegen noch zwei Pässe vor uns. Der Anstieg vom Kampala Pass zum Kharola Pass ist aber nicht mehr so steil, wir fahren über weite Ebenen, die Berge immer zu beiden Seiten im Blick.

Bevor wir jedoch den Kharola Pass erreichen, kommen wir zu einem weiteren Aussichtspunkt am Yandrok See. Kaum haben wir den Bus verlassen und ein paar Fotos geschossen, da kommen wieder Einheimische aus den Büschen und hinter den Felsen hervorgesprungen und wollen von uns Geld dafür haben, dass wir die Natur fotografieren.

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In China, so erklärt uns Yuke anschließend im Bus, besitzt der Staat auch die Natur und kann dafür Geld verlangen. In Japan ist das Besichtigen und der Genuss von Naturschönheiten kostenlos. China ist ein Mafia-Staat, wie Yuke selber zugibt. Gegen 13:30 Uhr erreichen wir ein tibetisches Restaurant und essen dort ein einfaches, aber leckeres halbwegs vegetarisches Mal. Es ist schwierig, einen Platz für uns zu finden, da das Lokal von einer Gruppe Russen oder Polen belagert ist. Nach dem Essen geht es dann weiter und gegen 14 Uhr 50 erreichen wir den Kharola Pass, der sich auf 5039 Metern Höhe befindet. Wir verlassen den Bus und stürmen auf den Gletscher zu, der auf der anderen Seite der Straße emporstrebt.

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Ein imposanter Anblick, wie das Eis und der Schnee im Schein der strahlenden Sonne glänzen und unsere Augen blenden. Trotz Sonne ist es etwas kühl und wir sind froh, uns einigermaßen warm nach dem Zwiebelprinzip angezogen zu haben.

Der Anblick ist so wunderschön und man kommt sich vor diesem Berg so unsagbar klein vor, alle Probleme verschwinden mit einem Mal im Nirvana. Uns stören auch die tibetischen Mädchen nicht, die uns nötigen wollen, für Fotos zu bezahlen, zu denen sie sich urplötzlich platzieren. Einfach die Natur zu genießen und auf dem harten Fels zu spazieren, der Millionen von Jahren alt ist und schon Generationen von Menschenleben überlebt hat, ist ergreifend. Wir bewegen uns hier auf dem Dach der Welt, auf den höchsten Punkten der Erde. Die Himalaya-Kette mit dem Mount Everest ist nur knapp 300 Kilometer entfernt. Das sind Tatsachen, die einen klein und unwichtig werden lassen.

Wir fahren weiter zum dritten Pass an diesem besonderen Tag, dem Simila Pass. Auf dem Weg dorthin sehen wir die schneebedeckte Himalaya-Kette am Horizont. Man kann es kaum glauben, hier fahren wir durch eine landwirtschaftliche Gegend, in der gerade die Ernte eingefahren wird, und ein paar Kilometer weiter weg beginnt bereits der Himalaya.

Natürlich halten wir immer wieder an und schießen ein paar Fotos. Für einen einheimischen mag es verrückt erscheinen, dass wir Interesse daran haben, die Tibeter bei der täglichen Arbeit zu fotografieren, aber für uns ist das so weit weg und in unserer hochtechnisierten Welt schon ein Teil der eigenen Vergangenheit.
Mehrere Kilometer fahren wir durch landwirtschaftlich erschlossene und bewirtschaftete Gegenden.

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Dann geht es wieder höher und wir kommen zum 3. Pass, dem Simila Pass. Wir stoppen an einem Stausee, der von seiner geologischen Form an die Fjorde in Norwegen erinnert. Die türkise Farbe des Gletscherwassers erinnert an die Seen und Flüsse der nordamerikanischen Rocky Mountains.

 

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Unser Stopp an diesem Stausee ist auch wieder eine atemberaubende Sache. Wir kommen aus dem staunen nicht heraus und genießen das wunderschöne Wetter. Es ist zwar etwas windig und kühl, aber die innere Wärme aufgrund dieser Sehenswürdigkeiten ist ausreichend. Die Fotoapparate klicken und die Kameras würden das selbe tun, wenn sie nicht mittlerweile lautlos arbeiten würden. Während die meisten aus unserer Gruppe bereits in Richtung des Bus verschwinden, beschließen Sibylle, Michi, Rita und ich, noch einmal etwas höher auf den Aussichtspunkt zu gehen. Der Weg nach oben ist nicht einfach, die Stufen bestehen aus losen Steinen, die jederzeit unter unseren Füssen wegrutschen können. Es ist auch sehr windig, so dass ich vorsichtshalber meine Mütze absetze. Der Aufstieg ist anstrengend, immerhin befinden wir uns über 4500 Meter Höhe. Doch die Anstrengung lohnt sich. Von dem Aussichtspunkt, an dessen Spitze eine kleine Lehmziegelhütte steht, das über und über mit Gebetsfahnen geschmückt war, bot sich uns wieder ein wundervoller Anblick auf das türkisfarbene Wasser und die rauen, schroffen Felsen.

Dieser Tag mit seien Naturschönheiten ist eine willkommene Abwechslung gewesen zu den Klöstern der letzten Tage. Aber auch für heute steht noch Kultur auf dem Programm.

Nach dem Besuch des Stausees erreichen wir bald darauf die Stadt Gyantse, unser nächste Station. Gyantse liegt auf 4070 Metern Höhe. Wir besuchen ein Kunbum Kloster, in dem verschiedene Sekten leben. 70 Mönche leben in diesem Kloster und der Abt ist ein Lama.

Interessantestes Objekt des Klosters ist eine Grabstupa, die 13 Stockwerke hoch ist. Leider ist es schon sehr spät, so dass wir es nicht mehr schaffen, bis ganz nach oben zu gehen. Von oben hätte man bei gutem Wetter die Himalaya-Kette gesehen, doch das ist uns heute nicht vergönnt. In den einzelnen Hallen des Klosters sind viele schöne Holzschnitzereien zu bewundern. Anschließend erwerben wir noch auf dem naheliegenden Markt eine Gebetsmühle als Souvenir. Michi und Martina haben die passende Räucherstäbchen-Schatulle erworben.

Nach dem Besuch des Klosters ging es wieder zurück ins Hotel. Dort hatten wir nur eine halbe Stunde Zeit, bis es zum Essen ging. Die Zeit nutzen wir, um Sibylle, die seit ein paar Tagen unter einer Halsentzündung und einer Erkältung litt, einen Tee zu machen. Unten in der Lobby des Hotels trafen wir dann die anderen. Wir hatten Yuke vorher gebeten, etwas Medizin für Sibylle zu besorgen. Es war ein Glückstreffer, dass sich direkt gegenüber des Hotels eine Apotheke befand. Zusammen mit Yuke sind Sibylle und ich dann zur Apotheke gegangen, während die anderen mit Herrn Tang ins Restaurant gegangen sind. Wir waren sehr froh, Yuke dabeizuhaben, denn er konnte dem Apotheker sehr gut auf chinesisch erklären, was Sibylle fehlte und welche Art von Medikamenten sie brauchte. Zum Glück hatte Yuke da schon zwei Medikamente im Kopf, die er empfahl. Der Apotheker, wie alle Chinesen war er anscheinend mit der Zigarette in der Hand geboren, suchte die Sachen heraus und wir bezahlten. Dann folgten wir den anderen in das Restaurant. Es war ein nepalesisches Restaurant, welches sich schon allein dadurch von den chinesischen und tibetischen unterschied, dass wir hier nicht an einem runden Tisch saßen, sondern an einer langen Tafel. Auch gab es keine Stäbchen für uns, hier wurde mit Messer und Gabel gegessen. Nichtsdestotrotz war das Essen extrem lecker und selbst Sibylle, die heute etwas angeschlagen war, konnte das Essen genießen. Es wurde wieder ein sehr schöner und geselliger Abend.
Danach gingen wir dann ins Hotel zurück und verschwanden schnell auf den Zimmern.

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